Jede dritte Frau und jeder fünfte Mann ist im Laufe des Lebens von einer osteoporotischen Fraktur betroffen. Doch obwohl Osteoporose weltweit zu den häufigsten Erkrankungen zählt, bleibt sie oft unerkannt. Das Münchner Start-up Bonescreen bekämpft diese "stille Epidemie" mit künstlicher Intelligenz.
Osteoporose ist eine schleichende Krankheit. Knochen verlieren über die Jahre hinweg an Dichte und Stabilität – häufig ohne erkennbare Symptome. Erst wenn ein Bruch auftritt, wird die Erkrankung bemerkt, doch dann ist es oft zu spät: Langwierige Krankenhausaufenthalte, eingeschränkte Mobilität und erhebliche gesundheitliche Komplikationen sind die Folge. Die Kosten für osteoporotische Frakturen in der EU summieren sich jährlich auf 56 Milliarden Euro.
Osteoporose-Screenings sind bislang nicht flächendeckend etabliert. Zwar gibt es mit der Dual-Röntgen-Absorptiometrie (DXA) eine bewährte Methode zur Knochendichtemessung, doch sie wird nur selten eingesetzt. „Gleichzeitig werden in Deutschland Tausende kostenintensive CT-Scans in der klinischen Routine durchgeführt. Sie beinhalten bereits wertvolle Informationen über die Knochengesundheit, die aber völlig ungenutzt bleiben“, sagt der klinische Radiologe Dr. Sebastian Rühling.
Sebastian Rühling, Bonescreen © TU München
Genau hier setzt Bonescreen an. Das Start-up entstand 2022 aus einer interdisziplinären Forschungsgruppe am Klinikum rechts der Isar. Das Team aus Ärzten und KI-Experten hatte ein gemeinsames Ziel: Bestehende medizinische Bilddaten besser zu nutzen, um so Osteoporose früher zu erkennen. „Bonescreen wurde aus dem Gesundheitswesen heraus gegründet, darunter von Ärztinnen und Ärzten, die täglich den demographischen Wandel und den Arbeitskräftemangel erleben und sehen, dass die Gesundheitssysteme massiv belastet sind“, erklärt Rühling, der Mitgründer und Chief Medical Officer von Bonescreen ist.
Dank zweier Grants des European Research Council konnte das Team zeigen, dass seine KI-basierten Algorithmen präzisere und automatisierte Knochendichtemessungen ermöglichen. Rühling: „Wir haben mit Proof-of-concept-Studien nachgewiesen, dass unsere kostengünstige Methode das Potenzial hat, die aktuelle Standardversorgung in Deutschland nachhaltig zu verbessern.“
Das überzeugte nicht nur die Wissenschaft, sondern auch erste Kliniken und Radiologie Praxen. Um das System in die Praxis zu bringen, wurde Bonescreen als Unternehmen ausgegründet. Weitere Geldgeber wie Bayern Innovativ und EIT Health kamen dazu. „Nicht entgeltliche Unterstützung erhalten wir vor allem von unseren Mentorinnen und Mentoren und Key Opinion Leadern im Bereich unseres Radiologienetzwerks, aber auch von Menschen, die wir bisher noch nicht gekannt haben, die aber den klinischen Mehrwert erkennen und uns helfen, das Produkt in verschiedenen Kliniken zu testen“, sagt Rühling.
Das Herzstück von Bonescreen ist SpineQ – eine Software, die CT-Scans vollautomatisch auswertet, und zwar ohne zusätzliche Untersuchungen oder Eingriffe. Während Radiologen bisher mühsam manuell nach Frakturen oder Dichteveränderungen suchen mussten, übernimmt SpineQ jetzt diese Aufgabe. Dabei übersetzt es für das menschliche Auge unsichtbare Knochendichtewerte in eine farbcodierte Heatmap. So werden minimale Unterschiede sichtbar. Zusätzlich erkennt das System unbemerkte Frakturen und liefert eine objektive Einschätzung der Knochengesundheit.
Damit ein KI-Modell verlässliche Vorhersagen treffen kann, muss es mit großen Mengen an hochwertigen Daten trainiert werden. Das Team von Bonescreen setzt dabei auf klinische Datensätze, die aus verschiedenen Krankenhäusern stammen. Alle Trainingsbilder wurden von medizinischen Experten annotiert, sodass das Modell nicht nur lernt, sondern sich kontinuierlich verbessert. Ein entscheidender Vorteil: SpineQ funktioniert unabhängig vom verwendeten CT-Scanner oder Protokoll. Die Software passt sich an, ohne dass die Radiologen ihre gewohnten Abläufe verändern müssen.
Von anderen KI-Lösungen zur Frakturerkennung unterscheidet sich die von Bonescreen nach Überzeugung ihrer Entwickler durch mehrere Alleinstellungsmerkmale: Die Software spielt die Ergebnisse direkt ins Picture Archiving and Communication System (PACS) der Klinik ein, sodass Ärzte nicht zusätzliche Programme bedienen müssen. Zudem bietet SpineQ eine vollautomatische Analyse, während andere Anbieter mit semimanuellen Verfahren arbeiten, bei denen Radiologen Messwerte händisch anpassen müssen. „Bei vielen KI-Lösungen, ist es so, dass sie noch eine weitere Schicht an Komplexität einbringen. Das sind oft Dinge, die eher den Workflow behindern. Da wir vollautomatische Analyse für die nahtlose radiologische Befundung anbieten, vermeiden wir das“, verdeutlicht Rühling.
Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal ist die Fähigkeit, CTs mit Kontrastmittel zuverlässig auszuwerten – ein Bereich, in dem andere Verfahren bislang an ihre Grenzen stoßen. Auch in puncto Datenschutz will sich Bonescreen von der Konkurrenz absetzen: Alle Daten verbleiben innerhalb der Klinik oder Praxis, eine Cloud-Speicherung ist nicht erforderlich, wodurch höchste Datenschutzstandards eingehalten werden.
Der Weg von der Forschung in die Praxis ist oft steinig – das weiß auch das Team von Bonescreen. Doch das Unternehmen ist auf dem besten Weg, seine Technologie flächendeckend in den Markt zu bringen. „Wir starten mit einer Phase, in der Radiologinnen und Radiologen uns testen können. Noch dürfen sie den Patientinnen und Patienten nicht sagen, was rausgekommen ist. Das wird aktiviert, sobald die CE-Zertifizierung da ist“, berichtet Rühling. Die Marktzulassung erwartet er noch im Frühjahr 2025.
Das Geschäftsmodell des Unternehmens sieht vor, SpineQ sowohl direkt an Kliniken als auch über Vertriebspartner anzubieten. Besonders vielversprechend ist die Zusammenarbeit mit großen radiologischen Praxisketten, die das System gleich in mehreren Standorten implementieren können. Internationale Partnerschaften, wie mit dem Erasmus Medical Center in Rotterdam, sollen den Markteintritt außerhalb Deutschlands erleichtern.
Doch das Unternehmen denkt bereits weiter. Die Technologie soll auf weitere Krankheitsbilder ausgeweitet werden, darunter die KI-gestützte Analyse von MRT-Bildern.
Langfristig will das Start-up erreichen, dass die Krankenkassen die KI-gestützte Knochendichtemessung als erstattungsfähige Leistung anerkennen. Derzeit kann die Untersuchung nur als Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) angeboten werden, doch das Reimbursement durch die Kassen wird angestrebt. Rühling: „Unser Fokus liegt darauf, den Nutzen für Anwender, Patienten und auch die Gesellschaft kontinuierlich zu steigern und wir arbeiten gemeinsam mit Krankenkassen und mit Patientenverbänden daran, Bonescreen als Bestandteil der präventiven Gesundheitsversorgung zu etablieren.“
Bonescreen zeigt, wie künstliche Intelligenz helfen kann, eine der am meisten unterschätzten Volkskrankheiten effektiver zu bekämpfen. Dabei zeigt das Start-up, dass die Zukunft der Osteoporose-Diagnostik nicht in neuen, teuren Untersuchungen liegt, sondern in der intelligenten Nutzung bestehender Daten.
Noch einmal Sebastian Rühling: „Langfristig wollen wir unser Produkt in der präventiven Diagnostik erweitern. Ich glaube, da gibt es noch viele Ideen, um neben der Knochengesundheit auch andere Erkrankungen mit Risiken aus vorhandenen Bilddaten frühzeitig zu identifizieren. Und wenn ich unseren Fünfjahresplan anschaue, dann sehe ich uns als einen der Anbieter evidenzbasierter KI-Softwarelösungen im Radiologiebereich, der wirklich aktiv einen Beitrag zur Prävention und Früherkennung leistet.“
Bonescreen GmbH |
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Gründungsjahr |
2022 |
Sitz |
81671 München |
Gründer |
Malek El Husseini, Jan Kirschke, Dominik Maurer, Sebastian Rühling, Anjany Sekuboyina, Giles Tetteh |
Anzahl Mitarbeiter |
10 |
Website |
www.bonescreen.de |
Gruppenfoto der Gründer (v. l.): Giles Tetteh, Jan Kirschke, Anjany Sekuboyina, Sebastian Rühling, Malek El Husseini, Dominik Maurer
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