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Parkinson: Mit „Telenurse“ und KI zu mehr Lebensqualität
In Deutschland sind rund 400.000 Menschen von einer Parkinson-Erkrankung betroffen. Dem Ziel, den körperlichen Verfall der Patienten zu verlangsamen und ihnen lange ein aktives Leben zu ermöglichen, hat sich das Start-up Portabiles Healthcare Systems aus dem Medtech-Cluster Erlangen verschrieben.
„Parkinson“ gilt nach „Alzheimer“ weltweit als zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass 1 Prozent der über 60-Jährigen daran leidet – Tendenz steigend, da auch die Lebenserwartung zunimmt.
Ursache der unheilbaren Erkrankung ist der fortschreitende Verlust von Nervenzellen, die die Bewegungen steuern. Typische Symptome sind deshalb Muskelzittern und -steifigkeit sowie eine instabile Körperhaltung. Menschen mit Parkinson haben Probleme beim Gehen und stürzen oft. Genau hier setzt Portabiles mit seinem Versorgungsmodell an, das unter dem Namen ParkinsonGo in den Gesundheitsmarkt gebracht wird.
Die Idee und die wissenschaftliche Basis dafür kommt von einem interdisziplinären Team, das Erkenntnisse aus spezialisierten Teilbereichen der Medizin und Informatik miteinander verband und durch kontinuierliche Forschung weiter verbindet. Seine Mitglieder fanden heraus, dass der Gang von Parkinson-Patienten Rückschlüsse auf den aktuellen Krankheitsverlauf zulässt – etwa durch Parameter wie die Schrittlänge – und sie suchten und fanden eine Möglichkeit, mittels Sensoren an den Schuhen entsprechende Daten zu erheben, sie mit intelligenten Algorithmen zu analysieren und für Ärzte nutzbar zu machen.
Sehr präzise Medikation notwendig
Mit Hilfe dieser Daten können auf die Behandlung von Parkinson spezialisierte Neurologen kleinste Veränderungen in der Gangqualität auf einen Blick erkennen, den Grad der Krankheit genau einstufen und die medikamentöse Therapie punktgenau anpassen. „Die Medikationseinstellung für Parkinson-Patienten ist sehr komplex. Da geht es wirklich darum, die Dosis präzise zu wählen und den Zeitpunkt der Einnahme beinahe minutengenau festzulegen“, beschreibt Ralph Steidl, Portabiles-Mitgründer und Geschäftsführer, die besonderen Herausforderungen der Behandlung.
Um ihre Entdeckung zur Marktreife zu bringen, gründeten Steidl sowie Björn Eskofier, Lehrstuhlinhaber für Informatik (Maschinelles Lernen und Datenanalytik) an der Universität Erlangen-Nürnberg, und Jochen Klucken, zu der Zeit stellvertretender Leiter der Molekularen Neurologie am Uniklinikum Erlangen, die Portabiles Healthcare Technologies GmbH. Ausgestattet mit Mitteln von „Friends and Family“, unterstützt von einem Business Angel und Fördergeldern des bayerischen Wirtschaftsministeriums ging das Unternehmen im Dezember 2016 an den Start. Zusätzlich half eine Gründungsfinanzierung des ESA Business Incubation Centres beim Bestreiten von Ausgaben für Miete und Geschäftsausstattung. Flankiert von mehreren erfolgreichen Finanzierungsrunden folgten Forschungsprojekte in Zusammenarbeit mit Kliniken im In- und Ausland, vor allem den Unikliniken in Erlangen und Marburg, die erfolgversprechende Ergebnisse zur Wirksamkeit der Methode erbrachten.
Betreuung durch „Telenurses“
Aber auch das Konzept für das Produkt selbst machte eine bemerkenswerte Entwicklung durch: So wurde der ursprüngliche Ansatz für eine DiGA zugunsten eines deutlich erweiterten telemedizinbasierten Ansatzes aufgegeben. Zwar steht im Kern eine App: Die ParkinsonGo-App analysiert das Gangmuster der Patienten und leitet daraus individualisierte Handlungsempfehlungen wie Übungen für zuhause und Tipps für den Umgang mit der Erkrankung ab.
Zusätzlich aber beobachten Parkinson-„Telenurses“ auf der Basis der App-Daten den Gesundheitszustand der Betroffenen und betreuen diese sowie deren Angehörige per Telefon oder Videokonferenz. Wenn sich der Gesundheitszustand der Erkrankten verschlechtert, wird das von der App automatisch erkannt und die Telenurse schaltet die zuständige neurologische Praxis ein.
Bei Bedarf nimmt die "Telenurse" Kontakt mit den Patienten auf.
„Wir sehen die Zukunft der Versorgung bei Parkinson in einer Mischung aus digitalen und menschlichen Komponenten, bei der Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige durch ein gezieltes Case-Management unterstützt werden“, erläutert Ralph Steidl den ganzheitlichen Ansatz von ParkinsonGo. Wearables, die die Beweglichkeit von Parkinson-Patienten messen, gibt es mehrere auf dem Markt, aber: „Das ist reines Monitoring und davon unterscheiden wir uns ganz massiv. Unser hybrides Versorgungsmodell ist einzigartig“, sagt der Geschäftsführer.
An der Schwelle zum Durchbruch
Und das überzeugt offensichtlich auch die Krankenkassen in Deutschland. So wurde 2024 ein wichtiger Meilenstein erreicht: Mit der Vertragsarbeitsgemeinschaft Hessen der Betriebskrankenkassen hat Portabiles Anfang des Jahres einen Selektivvertrag abgeschlossen. In ihn können sich von Parkinson betroffene Versicherte von mittlerweile 23 BKKen zusammen mit ihren behandelnden Ärzten einschreiben und so vom innovativen Behandlungskonzept profitieren.
Damit steht Portabiles nun an der Schwelle zum kommerziellen Durchbruch. Weitere Kassen können dem offen gestalteten Vertrag beitreten, zusätzliche Vereinbarungen mit gesetzlichen, aber auch privaten Krankenversicherungen sollen bald folgen. Nun gilt es, Ärzte sowie erkrankte Menschen von ParkinsonGo zu überzeugen, damit der vertragliche Rahmen auch mit Leben gefüllt wird.
Eine klassische Vertriebsaufgabe, die Portabiles auf verschiedenen Wegen bearbeitet: aktuell durch direkte Ansprache der Schwerpunktversorgungspraxen, Präsentationen auf Ärztekongressen und -veranstaltungen sowie über die Patientenvereinigungen, die regelmäßig Netzwerktreffen veranstalten oder Weiterbildungen anbieten. In Planung befindet sich zudem eine Vertriebskooperation mit einem Pharmaunternehmen.
Ralph Steidl stellt ParkinsonGo beim Kongress für Parkinson und Bewegungsstörungen vor.
Neue Märkte, neue Produktentwicklungen
Schon seit einer Weile hat sich Portabiles daran gemacht, den Blick auch über die Grenzen ins Ausland zu richten. Frankreich wurde nicht zuletzt wegen eines gut funktionierenden Erstattungssystems im Bereich Telemedizin als interessanter Markt erkannt, entsprechende Forschungskooperationen sind vereinbart. Im Rahmen eines EU-Projekts lotet Portabiles in Spanien und Frankreich die Möglichkeiten aus, Leistungserbringer wie Physiotherapeuten in ein Parkinson-Versorgungskonzept einzubinden. Und auch jenseits des Atlantiks wurden über Empfehlungen Kliniken gewonnen, die ParkinsonGo ausprobieren möchten. In einigen Jahren will Portabiles auch in den USA, einem der wichtigsten Gesundheitsmärkte der Welt, präsent sein.
Parallel zur weiteren Markterschließung wird die technische Produktentwicklung vorangetrieben. Sie liegt weitgehend in den Händen eigener Fachleute im Unternehmen – nur die Sensoren für die Schuhe bezieht Portabiles von einem Zulieferer in der Nähe. In einer zukünftigen Ausbaustufe soll mithilfe künstlicher Intelligenz das sogenannte Freezing – eine plötzlich auftretende Blockade, die Betroffene bewegungsunfähig macht – durch die App vorausgesagt und geeignete Maßnahmen eingeleitet werden. „Das ist ein Forschungsprojekt, an dem wir gerade arbeiten, um die Patienten nicht nur zu warnen, sondern ihnen sofort Tipps zu geben, was jetzt zu tun ist“, so Ralph Steidl. Dies wäre ein weiterer Baustein für eine ganzheitliche Versorgung bei Parkinson. Aber sicher nicht der letzte.
Portabiles Healthcare Technologies |
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Gründungsjahr | 2016 |
Sitz |
91052 Erlangen |
Gründer | Ralph Steidl (CEO), Prof. Dr. Björn Eskofier, Prof. Dr. Jochen Klucken |
Anzahl Mitarbeiter | 14 |
Website | www.portabiles-hct.de |