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Interview MedtecLIVE 2024

Interview zur MDR: “Ohne innovative Medizinprodukte gefährden wir die Patientensicherheit“

MDR – es braucht nur drei Buchstaben, um den Puls vieler Medizintechnik-Unternehmer in die Höhe zu treiben. Wir haben bei Marc-Pierre Möll, Geschäftsführer des Bundesverbandes Medizintechnologie e. V. (BVMed), nachgefragt, wie in der Branche über den Stand der Regulierung gedacht wird.

Herr Dr. Möll, im Frühjahr 2023 versuchte die EU, beim Thema MDR Druck aus dem Kessel zu nehmen, indem sie die Übergangsfristen für die Re-Zertifizierung verlängerte und Abverkaufsfristen strich. Hat dies zu einer spürbaren Verbesserung der Situation auf Seiten der Unternehmen geführt?

Marc-Pierre Möll: Die Änderungsverordnung war wichtig und richtig, denn die MDR ist handwerklich schlecht gemacht. Sie ist zu kompliziert und bürokratisch. Und sie bremst damit Innovationen aus. Es besteht breiter Konsens, dass die MDR eine Verknappung von Produkten in der medizinischen Versorgung verursacht. 

Die Folgen können dramatisch sein. Ein Drittel der Produkte droht vom Markt genommen zu werden. Bereits jetzt sind viele Produkte nicht mehr auf dem Markt verfügbar. Studien haben gezeigt, dass MedTech-Unternehmen in 65 Prozent der Fälle gezwungen sind, Entwicklungsressourcen in die Regulatorik zu verlagern, auf Kosten der Innovationstätigkeit. Nach einer BCG-Studie priorisieren mittlerweile 89 Prozent der MedTech-Unternehmen eine FDA-Zulassung. Unternehmen verlagern Forschungsprojekte zunehmend nach Großbritannien oder in die USA, weil dort der Innovationszugang und die Datennutzung besser geregelt sind. Und selbst die Schweiz, die über Jahrzehnte die CE-Kennzeichnung übernommen hat, orientiert sich in Richtung USA und will auch das FDA-Approval für Medizinprodukte anerkennen. 

Hat die erneute Änderung die Situation spürbar verbessert? Leider nicht, da das Grundproblem nicht gelöst wurde und der rechtliche Rahmen nach wie vor nicht praxistauglich ist. Wir haben gerade aktuelle Zahlen von der EU-Kommission bekommen. Sie zeigen, dass der Fortschritt beim Transfer von den alten Richtlinien zur MDR nach wie vor zu langsam ist. Über sechs Jahre nach Inkrafttreten der MDR sind erst knapp 4.000 MDR-Zertifikate ausgestellt. Das sind nur 17 Prozent der benötigten Zertifikate. Weitere 13.000 Anträge sind noch in der Pipeline. 

Das zeigt: Die strukturellen Probleme der Implementierung der neuen Regelungen werden von bürokratischen Hürden und fehlenden Regelungen überschattet. Es fehlt beispielsweise noch immer an Fast-Track-Regelungen für Orphan Devices, für Nischenprodukte, für Innovationen. Wir müssen handeln und MDR und IVDR strukturell weiterentwickeln.

Was wurde aus der Ankündigung der EU, kleine und mittlere Betriebe stärker zu unterstützen?

Marc-Pierre Möll: Daraus wurde bislang wenig. Die Grenze der bürokratischen Belastbarkeit insbesondere von kleinen und mittelständischen Unternehmen, unseren KMU, ist überschritten. Aber es bewegt sich nun etwas. Die EU-Kommission hat Mitte Oktober 2023 eine öffentliche Konsultation zur „Straffung der Berichtspflichten“ gestartet. Es sollen Maßnahmen zur Senkung des Verwaltungsaufwandes um bis zu 25 Prozent und zur Entlastung von KMUs ergriffen werden. Darin sind aber Konformitätsbewertungen nicht eingeschlossen. 

Es werden bereits weitere Maßnahmen der EU-Kommission zur Entlastung für KMUs diskutiert. Ziel ist, die Wettbewerbsfähigkeit der KMUs zu stärken und ein faires Umfeld auf dem gesamten Binnenmarkt zu fördern. Das geht in eine gute Richtung. In unserem Whitepaper zur Weiterentwicklung der MDR fordern wir zudem, ein KMU-Büro auf EU-Ebene einzurichten. Ziel eines solchen KMU-Büros ist es, die kleinen und mittleren Unternehmen gezielt zu unterstützen.

Dr. Marc-Pierre MöllDr. Marc-Pierre Möll © BVMed | Darius Ramazani

Sie beklagen, dass es durch MDR zu Engpässen bei der Versorgung mit Medizinprodukten kommt. Wo ist das bereits konkret sichtbar und wo wird es die Patienten nach Ihrer Einschätzung in den nächsten Jahren besonders hart treffen? 

Marc-Pierre Möll: Von sichtbaren Engpässen sprechen medizinische Fachgesellschaften und Ärzte beispielsweise in der Kinderkardiologie und Kinder-Herzchirurgie, in speziellen Bereichen der Orthopädie und in der Onkologie. Vielfach fehlt es an pädiatrischen Produkten, an Orphan Devices und Nischenprodukten. Und es fehlt meist an Produkten, die seit langer Zeit ohne Vorkommnisse auf dem Markt sind, die also als sicher gelten, die aber die erhöhten Anforderungen der MDR im Bereich von klinischen Daten nicht gerecht werden. Diese Daten zu erheben ist aber oftmals nicht einfach, da es sich um etablierte Technologien handelt. 


Sie haben in Ihrem Whitepaper, das Sie Ende August zusammen mit dem VDGH vorgelegt haben, die europäischen Institutionen aufgefordert, mit den Branchenverbänden und allen relevanten Akteuren in Deutschland und Europa in einen Dialog zu treten, um so schnell wie möglich die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Haben Sie große Hoffnung, dass das passieren wird? Oder haben Sie schon Resonanz auf Ihren Appell erhalten? 

Marc-Pierre Möll: Die strukturellen Probleme der MDR sind bekannt und anerkannt. Das sagen mittlerweile auch die EU-Abgeordneten ganz deutlich, die an den Verordnungen mitgewirkt haben. Bei den europäischen Institutionen ist ein Umdenken erkennbar. Deshalb sind wir zuversichtlich, dass nach den Europawahlen 2024 die Weiterentwicklung der MDR auf die europapolitische Agenda kommt. 

Aus Deutschland gibt es jedenfalls sehr positive Signale. So gab es kürzlich eine Initiative der Länder Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz, vereint gegen Engpässe bei der Versorgung mit Medizinprodukten und Arzneimitteln vorzugehen und den Produktionsstandort Deutschland zu stärken. An dem Treffen der Gesundheits- und Wirtschaftsministerien der vier Südschienen-Länder im September 2023 in München war auch der BVMed aktiv beteiligt. Es ist gut, dass die Politik im Dialog mit der Wirtschaft bleibt. Wir brauchen jetzt eine gemeinsame Kraftanstrengung, einen abgestimmten Medizintechnik-Pakt, um Produktion und Forschung unter schwierigen Rahmenbedingungen in Deutschland zu halten und zu stärken.

Wir brauchen eine MedTech-Strategie aus einem Guss. Wir brauchen eine wettbewerbsfähige Regulatorik. Wir brauchen eine Entbürokratisierungs-Offensive, die konsequent Überregulierungen abbaut und in Brüssel für standortfreundliche Regulierungen kämpft. Um unseren Mittelstand als Innovationstreiber zu stützen, nicht zu ersticken. Wir brauchen einen besseren Datenzugang und ein Antragsrecht beim Forschungsdatenzentrum für forschende Medizinprodukte-Unternehmen. Und wir brauchen eine Stärkung der Resilienz des deutschen Gesundheitssystems und der Lieferketten. Dazu gehört eine bessere Einbeziehung der MedTech-Branche in die Erarbeitung von Lösungen, denn Resilienz erfordert eine enge Kooperation von Politik und Industrie.

Ein erklärtes Ziel der MDR ist ja der Patientenschutz. Ist es da nicht unwahrscheinlich, dass sich die EU auf Erleichterungen, zum Beispiel durch Fast-Track-Verfahren für innovative Produkte, einlassen wird, wie sie von Ihnen gefordert werden? 

Marc-Pierre Möll: Im Gegenteil. Ohne moderne, innovative Medizinprodukte gefährden wir die Patientensicherheit. Schon heute haben die Ärzte in Deutschland nicht die besten Produkte zur Hand, anders als ihre Kollegen in den USA, Japan oder Brasilien. Darunter leidet die Qualität der Patientenversorgung. Wir hinken bei der Zulassung von innovativen Produkten bereits drei, vier Jahre hinterher.
 
Die Handlungsvorschläge in unserem MDR-Whitepaper referenzieren übrigens auf bestehende Regelungen in anderen Ländern oder Rechtsbereichen. Unsere Vorschläge sind erprobte Systeme, die bereits etabliert sind. Sie beinhalten keine Erleichterungen, die die Sicherheit oder Leistungsfähigkeit einschränken. Sie fokussieren sich aber auf wesentliche Aspekte der Konformitätsbewertung, ohne unnötige Bürokratie.

Europa muss wettbewerbsfähig bleiben und die Patientinnen und Patienten haben ein Recht auf hochklassige, sichere und leistungsstarke Medizinprodukte. Dies muss auch weiterhin sichergestellt werden.


Zur Person:
Dr. Marc-Pierre Möll ist seit 2019 Geschäftsführer des Bundesverbandes Medizintechnologie e. V. in Berlin sowie Geschäftsführer der BVMed-Akademie. Er ist zudem Mitglied des BVMed-Vorstands. Der promovierte Politikwissenschaftler verfügt über langjährige gesundheitspolitische Erfahrungen. Von 2008 bis 2019 verantwortete er den Bereich „Regierung und Parlament“ beim Verband der Privaten Krankenversicherung in Berlin. Davor leitete er 17 Jahre lang als persönlicher Referent das Büro von zwei Abgeordneten im Deutschen Bundestag.