Interview MedtecLIVE 2024
Interview zu PFAS-Ersatzstoffen: „Keines der identifizierten Materialen erwies sich als technisch sinnvoll einsetzbar.“
Mithilfe von KI hat sich der Thinktank Industrielle Ressourcenstrategien auf die Suche nach PFAS-Alternativen gemacht, die für die Medizintechnik geeignet sind. Inside Industry interviewte Thinktank-Geschäftsführer Christian Kühne zu den ernüchternden Ergebnissen und möglichen Konsequenzen daraus.
Herr Kühne, wie ist der Thinktank IRS bei seiner KI-gestützten Studie zu PFAS-Ersatzstoffen vorgegangen?
Christian Kühne: Für die besonders vom PFAS-Verbot betroffenen Branchen, also Automobilhersteller und -zulieferer, Medizintechnik sowie Pharma, haben wir gemeinsam mit den Unternehmen Carl Zeiss, Karl Storz, Mercedes-Benz, Novaliq und Richard Wolf die Funktionalität, das heißt die Nutzendimension der eingesetzten PFAS von ausgewählten Produkten betrachtet. Für die sechs Nutzenfunktionen Langzeitstabilität, chemische Stabilität, thermische Stabilität, Lichtbeständigkeit, hohe Gleiteigenschaften und biologische Verträglichkeit haben wir die jeweils benötigten Nutzenfunktionen der betrachteten Produkte zusammengestellt. PFAS zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie nicht nur eine, sondern gleichzeitig mehrere wichtige Nutzenfunktionen mit hoher Qualität erfüllen. Dies ist gerade für die Suche nach Alternativen entscheidend.
In einem zweiten Schritt haben wir das von der Firma TIM Consulting entwickelte KI-System CumulusAI mit über 2.000 Datensätzen auf die Frage trainiert, welche Substanzen möglicherweise die technischen Funktionalitäten der PFAS für die ausgewählten Produkte ersetzen könnten. CumulusAI ist ein Analysetool für große Datenmengen und nutzt transformerbasierte Sprachmodelle für effizientes Datenhandling und tiefere Einblicke.
Die KI analysierte weltweit mehr als 35.000 Veröffentlichungen und erweiterte dabei selbstständig den Rechercherahmen. Dabei wurde auf die Nutzenfunktion und nicht auf die chemische Struktur der PFAS abgehoben. Damit konnte nicht nur nach chemisch analogen Verbindungen, sondern nach jeder Art von chemischen Substanzen gesucht werden, die diese Nutzenfunktion erfüllen können. Dazu gehören beispielsweise auch Nanomaterialien oder keramische Werkstoffe. Es konnten 420 Substanzen identifiziert und in 32 Clustern strukturiert werden, was erstmal sehr vielversprechend klang.
Gemeinsam mit dem Institut für Industrial Ecology der Hochschule Pforzheim haben wir für die Unternehmen anschließend materialspezifische Funktionsprofile erstellt und das Substitutionspotenzial der identifizierten Materialien bewertet.
Was sind die wesentlichen Ergebnisse der Recherchen in Bezug auf die Medizintechnik?
Christian Kühne: Am Beispiel eines Resektoskops, einem medizinischen Instrument mit Drahtschlinge, das über Hochfrequenzstrom Gewebe abträgt, haben wir den benötigten PFAS-Einsatz untersucht. In Resektoskopen kommen in fünf verschiedenen Funktionen Fluorpolymer-Komponenten zum Einsatz. Eine davon ist das Nutzen von Hülsen aus dem PFAS PTFE zur elektrischen Isolierung der Elektroden. Sie gewährleisten eine sehr hohe Durchschlagsfestigkeit von 20 kV/mm und müssen thermisch stabil, chemisch resistent, antihaftend, relativ flexibel und zudem biokompatibel sein – also gleichzeitig sechs Nutzenfunktionen erfüllen.
Nach Filterung der Gesamtergebnisse nach benötigten Nutzendimensionen ergaben sich beim ersten der beiden beteiligten Medizintechnik-Unternehmen eine Liste von 36 Materialien und beim zweiten Unternehmen eine mit 20 Materialien. Nach genauerer Analyse und Studium der Originalquellen erwies sich allerdings keines der identifizierten Materialien als technisch sinnvoll einsetzbar. Hierbei sind bereits alle vielversprechenden, zugänglichen Forschungsansätze berücksichtigt.
Bei endoskopischen Geräten werden PFAS verwendet. ©Envato Elements
Das klingt nicht sehr ermutigend, obwohl in den Medien häufig von Forschungsprojekten zur Entwicklung von PFAS-Substituten zu lesen ist. Kommen sie zu spät?
Christian Kühne: Das Problem ist nicht, dass sie zu spät kommen. PFAS sind eine umfangreiche Verbindungsklasse mit sehr außergewöhnlichen, aber auch verschiedenen Eigenschaften. So sind die in der Medizintechnik eingesetzten PFAS biokompatibel, also für Menschen verträglich und unschädlich. Gleichzeitig sind sie chemisch stabil. Diese chemische Stabilität ist für die Umwelt wiederum nicht gewünscht, da sie, wenn sie in die Umwelt geraten, dort nicht oder sehr langsam abgebaut werden. Diesen Zielkonflikt, diesen Spagat der gewünschten und unerwünschten Eigenschaften, müssten auch die Alternativen lösen. Die bisherigen Lösungen schaffen es derzeit aber bestenfalls, eine oder mehrere Eigenschaften bzw. Funktionen schlechter zu erfüllen. In anderen Bereichen wie den technischen Textilien kann man vielleicht auf eine gleichzeitige Wasser- und Öldichtigkeit verzichten, in der Medizintechnik wäre dieser Weg aber fatal.
Welche Konsequenzen zieht der Thinktank IRS aus den Studienergebnissen? Was wollen Sie als nächstes tun?
Christian Kühne: Die wichtigste Erkenntnis ist, dass in bestimmten technischen Anwendungsbereichen kein gleichwertiger Ersatz existiert. Auch zeigen die vorliegenden Forschungsansätze keinen zuverlässigen, zeitlich beschreibbaren Weg auf, adäquate Alternativen zu entwickeln, industriell herzustellen und die entsprechenden Zertifizierungen und Zulassungen zu sichern. Im Umkehrschluss stellt sich die Frage, was erreicht werden soll und ob es dafür Alternativen gibt. Wir haben daher eine wissenschaftlich fundierte Nutzen-Risiko-Analyse von PFAS für die technischen Anwendungsbereiche vorgeschlagen.
So geraten im Medizinbereich die allermeisten PFAS über Gase in die Umwelt. Die Beschichtungen von Endoskopen sind davon nicht betroffen. In Abwägung auch der Gesundheitsrisiken für die betroffenen Menschen würden Regelungen zum Umgang und der Entsorgung dieser Geräte ausreichen, um sicherzustellen, dass die eingesetzten PFAS nicht in die Umwelt gelangen. Auch in anderen Industriebereichen ist es üblich, mit hochtoxischen und ökologisch riskanten Substanzen mit entsprechenden Auflagen und Schutzvorkehrungen umzugehen. Außerdem spielen in der Medizintechnik hauptsächlich Fluorpolymere eine wichtige Rolle, die wiederum umweltseitig als deutlich unbedenklicher einzuschätzen sind als andere PFAS und somit auch gesondert betrachtet werden sollten. In Bereichen wie den Consumer-Produkten kann man meines Erachtens leichter auf den Einsatz von PFAS verzichten, zumal hier eine Überwachung erheblicher schwieriger ist.
Wir wollen im Thinktank gemeinsam mit Industrie, Wissenschaft und Politik einen Vorschlag bzw. eine Methodik für eine solche detaillierte Nutzen-Risiko-Analyse und letztlich Bewertung erarbeiten.
Sind die Ergebnisse Ihres Projekts geeignet, anstehende Entscheidungen der EU in eine praxistaugliche Richtung zu lenken?
Christian Kühne: Auch wenn wir nur einen kleinen Ausschnitt des Einsatzes von PFAS in technischen Produkten betrachtet haben, glauben wir, dass wir einen wichtigen Beitrag in der Diskussion zu PFAS-Alternativen geleistet haben. Unser Ansatz hat eben versucht, auch alle bisher nicht berücksichtigten Alternativen zu erfassen. Das letztlich ernüchternde Ergebnis unserer Studie sollte den Entscheidungsträgern zumindest in seiner Konsequenz klar sein.
Der Einsatz in Bereichen, in denen PFAS gesundheitlich bedenklich sind, leicht in die Umwelt geraten und insbesondere ihre Eigenschaften eher als „nice to have“ zu bezeichnen sind, könnte schnell verboten werden. Substanzklassen der PFAS und technische Bereiche mit keinem oder sehr geringen Risiken, zum Beispiel geschlossene Industriesysteme mit Rohrleitungen, die innen mit PFAS beschichtet sind, Medizintechnik oder andere, könnten ausgeschlossen werden. Dies kann mit der vorgeschlagenen Nutzen-Risiko-Analyse und Bewertung erfolgen. Gleichzeitig sollte die Forschung zu PFAS-Alternativen europaweit stark forciert und ausgebaut werden.
Zur Person
Dr. rer. nat. Christian Kühne verfügt über langjährige Erfahrung in der Umweltverwaltung. Er verantwortete im Umweltministerium Baden-Württembergs den Bereich Umwelttechnik und Ressourceneffizienz, zuletzt als stellvertretender Referatsleiter. Kühne leitete und koordinierte F/E-Vorhaben des Umweltbundesamtes und des Bundesumweltministeriums, in EU-Projekten beriet er die Verwaltungen osteuropäischer Staaten, Thailands und Israels und ist bzw. war in Gremien bis hin zur UN-Ebene tätig. Seit 2019 leitet Christian Kühne den Thinktank Industrielle Ressourcenstrategien, der Politik und Industrie in zentralen Fragen der Ressourceneffizienz, -nutzung und -politik berät. Kernaufgabe des am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) angesiedelten Thinktank ist es, wissenschaftlich fundierte Informationen für Entscheidungsträger bereitzustellen.