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Serie Start-ups: Gut trainiertes Frühwarnsystem für Delir und Co. unterstützt das Personal im Krankenhaus

Kliniken erheben Tag für Tag zahllose Gesundheitsdaten. Dass diese über den Einzelfall hinaus für die Präventionsarbeit im Krankenhaus genutzt werden können, zeigt das Beispiel Predicting Health. Mit seinem Personalised Risk Tool will das Grazer Start-up Ärzten und Pflegern die Arbeit erleichtern.

Werner Leodolter galt als einer der Vordenker des Gesundheitswesens in Österreich und als IT-Pionier. Schon 2015 initiierte er den Aufbau einer eigenen Data-Science-Abteilung bei den Steiermärkischen Landeskrankenanstalten (KAGes), deren Vorstandsvorsitzender er zeitweise war. Zur Leitung der Abteilung holte er den Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Diether Kramer an Bord, der sich bereits in seiner Dissertation mit Gesundheitsdaten auseinandergesetzt hatte. Sein Auftrag: den Schatz zu heben, der in den Datensätzen schlummert, die Patienten in den Systemen der KAGes hinterlassen.

Ein erster Use Case war schnell identifiziert: Ärzte berichteten über delirante Patienten, die die Abläufe in den Stationen störten und erhebliche Mehrarbeit für das Pflegepersonal verursachten. Mit den Methoden des Supervised Machine Learning entwickelte Diether Kramer einen Algorithmus, der es ermöglichte, mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit vorauszusagen, ob ein Patient während des Klinikaufenthalts in einen akuten Verwirrtheitszustand geraten wird.

Personalised Risk Tool

Aus diesen Anfängen entstanden das Personalised Risk Tool (PRT), das seit 2018 in den KAGes erfolgreich eingesetzt wird, und 2019 die PH Predicting Health GmbH, als Tochterunternehmen der Steiermärkischen Krankenanstalten. Das PRT wurde seither um weitere Anwendungsfälle ergänzt. Neben dem Delir sind inzwischen Module für Dysphagie – eine Schluckstörung, die zu Lungenentzündungen führen kann – Mangelernährung und Sturz implementiert.

Der Bedarf für derartige Frühwarnsysteme ist da: Laut Statistiken kommt es in Krankenhäusern bei fast 10 Prozent der Patienten zu einem Delir, einem Sturz oder einer Lungenentzündung. Die Folge sind schwerwiegende Komplikationen, zusätzlicher Arbeitsaufwand und finanzielle Mehrbelastungen für die Kliniken. Solche Komplikationen wären vermeidbar – wenn man ihr Auftreten vorhersagen könnte und Pfleger oder Ärzte damit die Möglichkeit erhielten, vorbeugend einzugreifen. Zwar gibt es bereits Scores und manuelle Tools. Doch ihre Befüllung ist zeitaufwändig und sie werden deshalb oft nicht genutzt.

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Das Team von Predicting Health (v. l.): Stefanie Jauk, Dr. Sabine Sejak, Jakob Pieber (vorne), Prof. David Lumenta (mitte), Michael Schrempf, Dr. Diether Kramer, Sai Veeranki (hinten) ©Predicting Health

Individualisierte Risikoprofile

„Unser vollautomatisiertes Risikoscreening auf Basis der in der Routinedokumentation erhobenen Daten ermöglicht es, dass präventive Maßnahmen zielgerichtet und somit ressourcenschonend eingesetzt werden können“, erläutert Diether Kramer die wesentlichen Vorzüge des Personalised Risk Tools. „Unser Prognosetool setzt neue Maßstäbe für die frühzeitige Erkennung und das Management von Gesundheitsrisiken. Die Technologie entlastet nicht nur das medizinische Personal, sondern trägt auch signifikant zur Verbesserung der Patientensicherheit bei“, glaubt er.

Das PRT analysiert vollautomatisiert Muster in Patientendaten und generiert so individualisierte Risikoprofile ohne die Notwendigkeit manueller Dateneingabe. Auf einer Skala kann das Krankenhauspersonal auf einen Blick ablesen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Patient von einer der definierten Komplikationen betroffen sein wird.

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Das Personalised Risk Tool berechnet das individuelle Risiko für das Auftreten definierter Komplikationen ©Predicting Health

Training mit brasilianischen Datensätzen

Trainiert wird das PRT mit echten Patientendaten, permanentes Feedback von Pflegern und Ärzten hilft, die Algorithmen zu optimieren. „Dadurch sind unsere Vorhersagen sehr akkurat“, sagt Diether Kramer. Und sie werden immer genauer: Im Rahmen von Forschungsprojekten hat das Unternehmen bei anderen Kliniken ausprobieren können, wie seine Algorithmen mit den dort vorhandenen Daten funktionieren. Auch mit brasilianischen Datensätzen wurde bereits gearbeitet. Erleichtert wird dies durch den Umstand, dass in den Krankenhausinformationssystemen weltweit einheitliche ICD-Codes verwendet werden und Laborwerte als strukturierte Daten vorliegen. Bei unstrukturierten Daten etwa aus Arztbriefen oder Pflegeassessments, die ebenfalls hohe Aussagekraft besitzen, helfen Tools des Natural Language Processing bei der Integration in die bestehenden Datenmodelle.

„Das ist ein andauernder Kalibrierungsprozess“, erklärt Jakob Pieber, zuständig für Business Development bei Predicting Health. „Beim Machine Learning funktionieren die Algorithmen immer dort besonders gut, wo die Daten erhoben worden sind, aber fürs nächste Krankenhaus sind Anpassungen nötig. Wir erreichen das, indem wir uns bis zu 1300 Datenpunkte anschauen, die nachher in die Berechnung einfließen.“

Vertriebsstrategie mit drei Säulen

Seit 2023 agiert die Predicting Health GmbH als unabhängiges Start-up am Markt, mit Dieter Kramer als Geschäftsführer. Ziel ist es, vielen Kliniken das Personalised Risk Tool anbieten zu können. Als CE-zertifiziertes Medizinprodukt darf es in der EU und Großbritannien eingesetzt werden. Dort sieht Jakob Pieber in den nächsten Jahren auch den Schwerpunkt im Vertrieb.

Während sich das Start-up im Heimatmarkt Österreich selbst darum kümmert, setzt Predicting Health in Deutschland auf Vertriebspartner. Als erster wurde nun die Firma Opussense von Joachim Schweizer gewonnen, der mit seiner Erfahrung im Bereich der Krankenhausinformationssysteme bei der Integration des PRT in bestehende Softwarelandschaften helfen soll. Als dritte Säule fungieren Technologiepartner, etwa die SER Gruppe, ein Anbieter von Content-Management- und Dokumentensteuerungssystemen.

Konkurrenzlos ist Predicting Health nicht, im DACH-Raum gibt es eine Handvoll Mitbewerber. Doch Pieber ist sehr zuversichtlich: „Der Bedarf am Markt ist da und bei den Indikationen, die wir aktuell haben, sind wir hinsichtlich der Qualität der Aussage sicher führend.“

Diether Kramer und Stefanie Lauk stellten bei der DMEA in Berlin 2024 die praktischen Einsatzmöglichkeiten des Personalised Risk Tools vor. ©Predicting Health

Kapitalgeber gesucht

Bei den vier Indikationen Delir, Dysphagie, Mangelernährung und Sturz soll es nicht bleiben. Ziel ist es, viele der vermeidbaren Komplikationen im Krankenhaus vorhersagen zu können. Als nächste wird voraussichtlich die Sepsis an der Reihe sein. In der weiteren Zukunft soll das PRT auch als Cloud Lösung angeboten werden. Gespräche mit einem großen Gesundheitsdaten-Cloudanbieter laufen bereits.

Zur Realisierung der Pläne braucht Predicting Health allerdings noch Investoren. Anders als die meisten Start-ups hat die Firma ihr Produkt unter dem Dach der Mutter KAGes fertig entwickeln können, ohne Kapitalgeber suchen zu müssen. Das steht jetzt an: „Normalerweise hat man, wenn man auf dieser Stufe ist wie wir, ja schon mal Geld eingeworben. Und wir kommen mit einem fertigen Produkt, sind aber noch nicht finanziert“, berichtet Jakob Pieber. „Das muss man Venture-Capitalgebern erst einmal erklären. Aber wir sind guter Dinge und haben vielversprechende Interessenten.“ 

Die Entwicklung der Predicting Health GmbH bestätigt die Idee von Werner Leodolter, der die Initialzündung gegeben hatte und die Firma 2019 mit Diether Kramer gegründet hatte. Die Abnabelung von der KAGes hat Leodolter aber nicht mehr erlebt. Der IT-Experte, Universitätsprofessor und Buchautor starb im Juni 2022 bei einem Autounfall.

PH Predicting Health GmbH
Gründungsjahr 2019
Sitz A-8010 Graz
Gründer Prof. Dr. Werner Leodolter (†), Dr. Diether Kramer (CEO)
Anzahl Mitarbeiter 6
Website

www.predicting-health.at