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Interview Christian Johner: „Der Engpass der Benannten Stellen beginnt sich aufzulösen“

Angesichts des MDR-Hürdenlaufs denken Medizintechnik-Hersteller darüber nach, ihre Produkte zuerst in den USA auf den Markt zu bringen. Doch in der EU gibt es Licht am Ende des Tunnels, stellt Christian Johner, Gründer und Gesellschafter des Johner Instituts, im Interview mit Inside Industry fest.

Herr Professor Johner, Sie haben kürzlich in Ihrem Instituts-Journal Gründe abgewogen, warum Medizintechnik-Unternehmen die Zulassung ihrer Produkte in den USA statt in Europa anstreben sollten. Das Ergebnis war 3:1 pro USA. Muss sich Europa auf einen Exodus in der Branche gefasst machen?

Christian Johner: In der Tat gibt es für viele Medizinproduktehersteller mehr Gründe, ihre Produkte zuerst in den USA in den Markt zu bringen. Diesen Shift Richtung USA verspüren wir sowohl über unsere Netzwerke als auch durch einen Anstieg nach unseren entsprechenden Dienstleistungen. Für diesen Shift sehen wir die folgenden Gründe:

Dauer der Zulassungen
Die Dauer für eine „Zulassung“ in den USA ist inzwischen im Mittel kürzer und vor allem planbarer als ein Konformitätsbewertungsverfahren in der EU.

Klarheit der Anforderungen
Die Anforderungen der FDA sind klarer als die Anforderungen, welche die Benannten Stellen gemäß ihrer Interpretation der MDR bzw. IVDR stellen. Wir beobachten zudem, dass sich diese Anforderungen bzw. deren Interpretationen über die Zeit ändern, dass sie sich zwischen den Benannten Stellen unterscheiden und teilweise auch innerhalb derer. Das führt zu einer Rechtsunsicherheit.

Umfang der Anforderungen
Die Anforderungen in der EU sind in vielen Bereichen höher als in den USA. Beispiele sind die Anforderungen an die Äquivalenz von Vergleichsprodukten und die klinischen Prüfungen, die in der EU häufiger notwendig geworden sind.

Passgenauigkeit der Zulassungsverfahren
Die USA kennt Zulassungsverfahren speziell für innovative Produkte und Produkte, die für bestimmte Patientengruppen wichtig sind. Solche Regelungen gibt es in Europa nicht. Es fehlt auch eine Institution, welche sich – im Gegensatz zur FDA – wirksam für die Versorgungssicherheit verantwortlich fühlt und für solche Produkte die juristischen Bahnen ebnet.

Wertschätzung und Güte der Kommunikation
Viele Hersteller haben das Gefühl, dass die FDA-Mitarbeitenden zwar streng, aber fair und auf Augenhöhe operieren. Sie schätzen die inhaltlich und zeitlich verbindlichen Auskünfte. Von den europäischen Gesetzgebern, Behörden und Benannten Stellen fühlen sie sich unter den Generalverdacht gestellt, die Gefährdung von Patienten in Kauf zu nehmen, und klagen über eine unzuverlässige Kommunikation wie Anfragen, die nicht oder erst nach langer Zeit oder mit Allgemeinplätzen beantwortet werden.

Europa muss sich darauf gefasst machen, dass immer mehr Medizinproduktehersteller die USA als den ersten Markt wählen. Gleichzeitig ist der Anteil beispielsweise der deutschen Hersteller, die neue Produkte in den deutschen Markt bringen, bereits jetzt kollabiert, wie es unsere Forschenden anhand der Zahlen aus den Behördendatenbanken gezeigt haben. Das heißt, der Shift Richtung USA ist nur ein Teil der negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung und Unternehmen in der EU.
 

Auf andere Märkte, etwa die USA, auszuweichen, ist wahrscheinlich nicht für alle möglich. Für welche Unternehmen kann das eine Alternative bzw. Ergänzung sein, für wen nicht?

Christian Johner: Wir unterstützen die Medizinprodukte- und IVD-Hersteller genau bei dieser regulatorischen Strategie. Denn, ob es sich für einen Hersteller ergibt, die USA als den ersten Markt zu wählen, hängt von vielen Parametern ab. Beispiele sind:

Art des Produkts und daraus folgendes Zulassungsverfahren
Falls der Hersteller für sein Produkt ein „Predicate Device“ findet und es über eine 510(k) (das wichtigste Verfahren, um Medizinprodukte in den USA zuzulassen; Anm. d. Red.) in den Markt bringen kann und nicht etwas über eine PMA, spricht das für den US-Markt.

Product Market Fit
Hersteller sollten die lokalen Anforderungen des Markts kennen. Oft sind eine einfache Bedienung durch Pflegekräfte mit einem anderen Ausbildungsstand, eine höhere Robustheit und ein niedriger Preis wichtiger als ein Reigen an „Product Features“.

„Reimbursement“
Die Attraktivität eines Markts hängt nicht nur von den regulatorischen Hürden ab, sondern von den Umsätzen, die Hersteller in dem Markt erzielen können. Die Erstattungsstrukturen beider Märkte unterscheiden sich sehr.

Wettbewerbssituation
Ein Me-Too-Produkt wird es in den USA schwer haben. Umgekehrt hat die FDA sogar schon deutsche Hersteller angefragt, ihre innovativen und einzigartigen Produkte in den USA zu vermarkten.

Marktpräsenz, Partnerschaften
Die Hürden, sich in einem neuen Markt zu etablieren, sind hoch: Verkaufs- und Support-Strukturen müssen aufgebaut werden. Zollformalitäten und rechtliche Anforderungen außerhalb des Medizinprodukterechts müssen bekannt und beherrscht sein.

Der US-Markt ist somit beispielsweise für Hersteller interessant, die bereits ein etabliertes US-Geschäft haben und mit neuen Produkten und Produktversionen Lücken im US-Markt schließen wollen.

Weitere regulatorische Eingriffe in Europa sind beschlossen oder angekündigt. Trotzdem haben Sie die Erwartung geäußert, dass es in absehbarer Zeit für die Medizintechnikbranche besser werden könnte. Worauf gründet sich die Hoffnung?

Christian Johner: Es gibt mehrere Faktoren, die den europäischen Herstellern etwas Hoffnung machen sollten:

Der Engpass der Benannten Stellen beginnt sich aufzulösen. Immer mehr Benannte Stellen lassen uns wissen, dass sie noch Kapazitäten haben. Damit entsteht wieder ein Markt, in dem faire Preise, schnelle Dienstleistungen und verlässliche Aussagen notwendig sind, um darin zu bestehen.

Die Behörden sowie Auditoren und Reviewer Benannter Stellen haben immer mehr Übung sowie ein gemeinsameres Verständnis der regulatorischen Anforderungen. Das führt zu mehr Rechtssicherheit.

Zudem wird diesen Akteuren zunehmend klar, dass sie an einigen Stellen übers Ziel hinausgeschossen sind und relativieren Überinterpretationen der gesetzlichen Vorgaben.

Auch die EU-Kommission hat ein Bewusstsein dafür erlangt, dass ihre Regulierung sich negativ auf die Versorgungssicherheit, auf die Innovationskraft und auf die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Hersteller auswirkt. Es besteht zumindest die Hoffnung, dass die neue Kommission entsprechend eingreift.

Wir begleiten viele Unternehmen, insbesondere Hersteller und Benannte Stellen, durch deren digitale Transformation. Daher wissen wir, dass sowohl Hersteller als auch Benannte Stellen ihre Produktivität regulatorischer Prozesse vervielfachen können. Dadurch kollabieren die Aufwände, Kosten und Dauern zum Beispiel von Konformitätsbewertungsverfahren. Und damit schrumpft der relative Vorteil von Zulassungen in den USA.

Überregulierung gilt als Bremsklotz für die innovative Medtech-Branche. Ist sie der einzige Grund, wenn Innovation unterbleibt? Was wird aus Unternehmen, die auf dem Gebiet F&E zurückbleiben?

Christian Johner: Viele Hersteller müssen sich zumindest einen Teil der Probleme selbst zuschreiben. Sie haben es versäumt, in den guten Jahren die eigene Transformation voranzutreiben. Andere Branchen haben längst Kernprozesse komplett digital transformiert. In der Medizinprodukteindustrie ist man stolz, dass statt Papier nun PDF-Dokumente eingereicht werden können.

Auch haben zu viele Unternehmen nicht verstanden, dass zu ihrer Strategie auch eine regulatorische Strategie zählt und dass dafür regulatorisches Expertenwissen notwendig ist. In die Qualifizierung dieser Regulatory.Expertinnen und -Experten wurde zu wenig oder zu wenig zielgenau investiert.

Sicher gibt es auch Unternehmen, die im Bereich F&E zurückbleiben. Teilweise sind das Folgen der Regulierung, weil die besten Entwicklerinnen und Entwickler für die Nachdokumentation abgezogen wurden. Davon abgesehen wäre es aber nicht angemessen, den deutschen Medizinprodukteherstellern den Innovationswillen und die Innovationskraft abzustreiten.

Im Zertifizierungsprozess nehmen die Benannte Stellen eine zentrale Rolle ein. Darüber, wie kundenfreundlich diese agieren, gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen und Berichte. Worauf sollten Unternehmen bei Auswahl und Beauftragung achten?

Christian Johner: Der Wechsel einer Benannten Stelle ist meist ein großes Unterfangen. Falls Unternehmen die Möglichkeiten dazu haben, helfen beispielsweise die folgenden Kriterien bei der Auswahl:

  1. Vertragliche Klarheit wie vertraglich vereinbarte Antwortzeiten und Bearbeitungszeiten oder eine Vereinbarung, dass nicht während des Verfahrens, zum Beispiel während der Beantragung, die Spielregeln geändert werden
  2. Güte und Klarheit der Antragsunterlagen
  3. Digitalisierungsgrad inklusive Zusicherung, dass die Benannte Stelle künftig daten- statt dokumentengetriebene Zulassungen anbieten wird
  4. Passgenauigkeit für die eigenen Produkte. Es gibt Benannte Stellen, die sich auf einen oder wenige Produkttypen spezialisieren
  5. Anzahl der relevanten Fachexpertinnen und -experten. Alleine das Risiko, dass der Ausfall einer zentralen Person Verfahren um Monate verzögern kann – mit entsprechenden Konsequenzen für die Umsätze –, hat schon Hersteller zum Wechsel veranlasst.


Zur Person

Professor Dr. Christian Johner ist Experte für die Entwicklung und Zulassung von Medizinprodukten, die Software enthalten oder Software sind. Als Auditor, Mitglied eines Normen-Komitees, Ausbilder Benannter Stellen und Autor setzt er sich für die Weiterentwicklung der regulatorischen Landschaft ein. Das von ihm gegründete Johner Institut unterstützt Medizinprodukte- und IVD-Hersteller weltweit beim Aufbau von QM-Systemen, bei der Zulassung ihrer Produkte und bei der digitalen Transformation regulatorischer Prozesse. Der promovierte Physiker lehrte unter anderem an der Hochschule Konstanz, der Universität St. Gallen, der Universität Würzburg sowie der Stanford University Software-Architektur, Software-Qualitätssicherung und medizinische Informatik.